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Ein Kommentar von Prof. Dr. Klaus-Dieter Müller
  • Von der Seele reden

Die Europäische Union ist eine Scheindemokratie

Von der Seele reden | Folge 615

19.08.2024

Von der Seele reden – der Kommentar von Prof. Dr. Klaus-Dieter Müller, Politik- und Medienwissenschaftler und Vorstand der „Stiftung: Christliche Werte leben“.

Jeden Donnerstag um 20:45 Uhr im Radio und bereits vorab hier den ausführlichen Kommentar online hören. Mehr Infos zur Stiftung auf www.christlichewerteleben.de Der Bundestag wird endlich kleiner


Die Gemeinschaft war von Anfang an eine Veranstaltung der Regierungen. Sie entscheiden über die Verträge, d. h. die Grundlagen der EU, und sie haben – auf der Basis der Verträge – im Rat, der nach wie vor das zentrale Organ der Union darstellt – die Macht in der Hand. (…) Das Europäische Parlament wirkt zwar an der Gesetzgebung mit, kann die Defizite aber nicht heilen. Drei klassische Funktionen von Parlamenten stehen dem Europäischen Parlament gar nicht zu: Weder kann es eine Regierung wählen, noch entscheidet es abschließend über den Haushalt, noch kann es schließlich Gesetze initiieren. Das Recht, Gesetze einzubringen, liegt vielmehr ganz allein bei der Europäischen Kommission, und diese ist – aufgrund ihrer Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit – praktisch von Verantwortlichkeit gegenüber dem Parlament und erst recht den Bürgern frei. Auch die fundamentale Errungenschaft der Demokratie, das gleiche Wahlrecht, ist in Brüssel außer Kraft gesetzt. Die Stimme eines Luxemburger Wählers hat elfmal so viel Gewicht wie die Stimme eines Deutschen.“ 

Die Europäische Kommission sieht das natürlich anders:

„Das Europäische Parlament wird in der zweitgrößten demokratischen Wahl der Welt (nur in Indien gibt es noch mehr Wahlberechtigte) alle fünf Jahre direkt gewählt. Die EU-Kommission ist dem Parlament gegenüber voll verantwortlich. Im Ministerrat sitzen Vertreter demokratischer Regierungen der Mitgliedstaaten. Die Europäische Union ist integraler Bestandteil unserer repräsentativen Demokratien. Sie handelt im Auftrag und Interesse der Unionsbürger.“   Überzeugend ist das nicht.

„Eintracht, Wohlstand und Demokratie – die Europäische Union hat diese drei Säulen in den letzten 50 Jahren in Europa gefestigt. Sie sollten als Leitgedanken für unsere rationale zukünftige Utopie gelten. Die Utopie ist immer noch weit davon entfernt, Wirklichkeit zu werden. Wir erleben dies bei jeder schweren Krise in Europa aufs Neue – sei es Wirtschaftskrise oder Flüchtlingskrise. Die Europäische Union ist nicht in der Lage, einig aufzutreten. Jedes Land zieht sich hinter seine Grenzen zurück und verteidigt seine Pfründe, ohne sich um die gemeinsamen Interessen zu kümmern. Wir verstehen nicht, dass wir – zumindest im aktuellen Europa – unsere eigenen Interessen nur wahren können, wenn wir auch die der anderen Länder wahren. Denn die Interessen der anderen sind auch unsere eigenen“, sagt die Europäische Investitionsbank.

Das vereinte Europa ist die einzige vernünftige politische Utopie, die wir Europäer im Laufe der Geschichte zustande gebracht haben. Aber: Die Utopie ist noch nicht Wirklichkeit geworden. (…)

Das europäische Projekt geht zurück auf die Trümmer des Zweiten Weltkriegs und ruht auf den Träumen von Freiheit, Frieden und Wohlstand in ganz Europa. Es waren diese Erzählungen, welche die Legitimationsgrundlagen der entstehenden Europäischen Union ausmachten: Versöhnung zwischen den Völkern und nie wieder Krieg; Freiheit nicht nur für den Westen, sondern als Vision auch für den Osten Europas; die Konkurrenzfähigkeit des Alten Kontinents innerhalb der Weltwirtschaft. Diese Erzählungen tragen nicht mehr recht; der Frieden schien uns selbstverständlich zu sein, bevor Putin uns aus unseren Träumen riss, China und die Internet-Ökonomie scheinen übermächtig zu sein. Das wirtschaftliche System, das Europa reich und mächtig gemacht hatte, scheint an den Rand seiner Funktionsfähigkeit zu kommen. Auch der öffentliche Diskurs ist ein merkwürdiger: Da geht es um den Kampf des „geizigen Nordens“ gegen einen „faulen Süden“ und um EU-Bürokraten, die einen irren Feldzug gegen krumme Gurken führen. Politik und Wissenschaft haben es bisher nicht geschafft, den Bürgern der EU zu vermitteln, was für eine Art politischer Gemeinschaft im Laufe von mehr als einem halben Jahrhundert denn nun geschaffen worden ist. Es kann ein intellektuelles Armutszeugnis genannt werden, dass die eigene Verfassung den Menschen in Europa ein nicht zu enträtselndes Geheimnis geblieben ist. Ein starkes Europa braucht andere, transparente und demokratische Strukturen.

Ich wünsche Ihnen eine erholsame Sommerwoche, aber bitte bleiben Sie achtsam.