00:00
04:58
Ein Kommentar von Prof. Dr. Klaus-Dieter Müller
  • Von der Seele reden

Der Mensch ist nachhaltig nur in Gruppen überlebensfähig

Von der Seele reden | Folge 610

18.07.2024

Von der Seele reden – der Kommentar von Prof. Dr. Klaus-Dieter Müller, Politik- und Medienwissenschaftler und Vorstand der „Stiftung: Christliche Werte leben“.

Jeden Donnerstag um 20:45 Uhr im Radio und bereits vorab hier den ausführlichen Kommentar online hören. Mehr Infos zur Stiftung auf www.christlichewerteleben.de


Wir haben eine individuelle Identität, bestehend aus Eigenschaften, die unsere Persönlichkeit ausmachen, und Merkmalen, die nur uns selbst betreffen. Darüber hinaus entwickeln wir eine soziale Identität im Kontakt mit anderen Menschen. Zum einen gehören wir angeborenen sozialen Kategorien wie den unterschiedlichen Geschlechtern an. Zum anderen gibt es Normen, die wir im Umgang mit anderen Menschen erlernen. Evolutionspsychologen würden sagen: Wir haben unterschiedliche Bedürfnisse. Dazu gehört das Bedürfnis nach Sicherheit: In der Gruppe haben wir Überlebensvorteile und fühlen uns deshalb sicherer. Unsere gesamte Kultur ist daher auf Gruppen ausgelegt. In Familien, Freundeskreisen, Arbeitsgruppen, Vereinen und andere Organisationen – überall leben wir mit anderen Menschen zusammen und entwickeln anhand verschiedener Gruppennormen unsere soziale Identität.

Seit den 1990er-Jahren wird der Individualismus gepriesen. Ein jeder solle sich ausleben und das eigene Ego stärken, meinen die vermeintlichen Liberalen. Das sei ein sicherer Weg, in unserer Gesellschaft zu überleben. Fast schon wie eine Religion wird der Egoismus von ihnen gepredigt. Aber schon von Anbeginn der Menschheitsgeschichte war langfristig nur die Gruppe überlebenswichtig und ist es auch heute noch. Der Egoismus hat uns in die Situation geführt, die wir heute haben – die haltlose Konsumgesellschaft. Macht sich der Mensch von heute weiterhin rücksichtslos an den Schätzen der Natur zu schaffen, gehen seine Nachkommen leer aus. Es muss uns gelingen, unsere Handlungen und Entscheidungen wieder bewusst zu kontrollieren. Es erinnert uns daran, dass wir als Menschen eine Verantwortung haben, nicht nur gegenüber der Natur, sondern auch gegenüber uns selbst und anderen.

In der Corona-Pandemie haben wir es alle erlebt. Auch der soziale Frieden ist ein gutes Beispiel.

„Gerade die Menschen, die vom Egoismus als herrschendem Prinzip überzeugt sind, fühlen sich selbst überdurchschnittlich häufig einsam, hoffnungslos, als Verlierer von Veränderungen und von der Gesellschaft im Stich gelassen – und reagieren darauf ihrerseits mit einem „Solidaritätsentzug“, hat die Sozialforscherin Laura-Kristine Krause ermittelt. 

Vom französischen Philosophen René Descartes stammt das bekannte Zitat: „Cogito ergo sum“ – „Ich denke, also bin ich“ – nach wie vor als Powerpack im politischen Proviant namentlich vieler Liberaler.

Stärkt Descartes mit diesem Satz doch das Individuum, indem er es auffordert, auf sich selbst zu vertrauen und nicht unbesehen zu glauben, was andere als Wahrheit verbreiten. Jeder Einzelne, so sagt er, kann dieser vorgeblichen Wahrheit auf der Basis seines eigenen Denkens widersprechen, eine Idee, die bei Päpsten und Potentaten jeglicher Couleur verständlicherweise noch nie gut ankam.

Mit heutigen Augen gesehen ist Descartes‘ Lehrsatz eine klare Absage an jeden Totalitarismus, leider nicht aber auch gleichzeitig eine Ansage an eine Gesellschaft als gemeinsames Projekt. Dafür hatte Descartes zu sehr das Ich und zu wenig das Wir im Blick.

Das einundzwanzigste Jahrhundert könnte das Jahrhundert einer neuen Balance zwischen Staat, Markt und Bürgergesellschaft werden. Nach den Entzauberungen des Sozialismus und des „Kapitalismus pur“ könnte man nun entspannter und weniger alternativradikal über die jeweiligen Stärken und Grenzen des Staates, des Marktes und auch der Bürgergesellschaft diskutieren. Man kann sich auf eine Weise und in einer Perspektive damit auseinandersetzen, die diese drei sozialen Mächte nicht länger gegeneinander in Stellung bringt, sondern nach den ordnungspolitischen Arrangements fragt, die geeignet sind, damit sie gemeinsam ihre je eigenen Stärken optimal zur Entfaltung bringen und die je spezifischen Grenzen des anderen möglichst kompensieren – zum Wohle des Ganzen.

Ich wünsche Ihnen eine schöne Woche in Gemeinschaft, aber bitte bleiben Sie achtsam.