Vorbild.
Ich sitze auf dem Campingplatz, sie hören es vielleicht am Vogelgezwitscher im Hintergrund. Seit 10 Wochen leben wir im Wohnwagen. Warten auf die Fertigstellung des neuen Zuhauses. Ich campe gerne – aus einem Grund: man lernt Menschen kennen. Heute zum Beispiel. Auf der Wiese zeltet ein älteres Paar. Ihre Fahrräder erwecken meine Neugierde. Es sind kleine Klappräder. Eins davon mit Anhänger. Ich spreche den älteren Herrn an. Die Räder hat er eigenhändig umgebaut, Elektromotor in der Nabe, 500 Watt Akku. Damit haben wir jeden Pass in der Schweiz bewältigt. 20% Steigung ohne Anhänger, 16% mit. Im Mai waren wir mit den Rädern in Salerno in Süditalien. Darf ich sie nach Ihrem Alter fragen? Er lacht. Ich bin jetzt 80 Jahre alt. Ich spiele mein Lieblingsspiel mit ihm: Heiteres-Beruferaten. Wenn sie aus Zürich kommen, sind sie pensionierter Banker, der reumütig einen alternativen Ruhestand verbringt, um seine krummen Geschäfte abzubüßen. Wieder lacht er. Ganz kalt. OK – sie haben Schokolade produziert. Auch falsch. Pharmaindustrie ist mein letzter Joker. Das kommt dem schon näher. Allerdings habe ich als Arzt mein Leben lang keinen Pharmavertreter empfangen. Die hätten mir nur unnötiges Zeug aufgeschwatzt. Seine Frau kommt dazu. Wie halten sie es mit diesem Mann aus? Auch sie lacht. Manches Mal muss ich ihn ein wenig antreiben. Er wird ein wenig träge! Sie haben zwei Fahrräder. Ein Auto hatten wir nie – wozu auch in Zürich? Zum Reisen brauchen wir weder Flugzeug noch Auto. Wir haben unsere Räder und das Zelt. Wir haben ganz Europa gesehen. Klappräder deshalb, weil wir sie in jeden Zug mitnehmen können. Die beiden packen ihr Zelt zusammen und radeln los. Wohin geht es heute? Ach nur bis Ulm. Einmal über die schwäbische Alb.
Ich werde in diesem Jahr 70. Es tut mir unglaublich gut, noch Vorbilder zu finden, denen ich nacheifern kann. So was erlebt man nur auf dem Campingplatz.