Ohne Blick für das Schöne.
An einem kalten Morgen im Januar in 2007 stellt sich ein Musiker in eine U-Bahn-Station in Washington DC. Er geigt während der Rush Hour 45 Minuten lang. Sechs Stücke von J.S. Bach, Schubert u.a. Etwa 1.097 Menschen mussten in der Zeit an ihm vorbei gegangen sein – die meisten von Ihnen auf dem Weg zur Arbeit. Nach 3 Minuten realisiert ein erster Passant den Musiker. Er verlangsamt seinen Schritt, bleibt kurz stehen und eilt dann wieder weiter. Eine Minute später erhält der Musiker den ersten Dollar. Eine Frau wirft das Geld im Vorbeigehen in die Kappe vor ihm. Erneut vergehen ein paar Minuten. Tatsächlich bleibt ein Mann stehen und lauscht der Musik. Als er dann auf die Uhr blickt, läuft er abrupt wieder los, offensichtlich spät dran.
In den 45 Minuten hielten am Ende nur 7 Leute an und genossen die Musik. 27 gaben Geld, meist im Vorbeigehen: insgesamt 32 Dollar. Als er mit dem Spielen fertig war und wieder Stille in die Metrostation einkehrte, applaudierte niemand. Denn niemand wusste, dass der verkleidete Straßen-Musiker in Wirklichkeit der Star-Geiger Joshua Bell war – einer der talentiertesten Musiker der Welt, von dem die Fachwelt sagt „er spielt wie ein Gott“. Die Ironie dabei: Zwei Tage zuvor hatte Joshua Bell ein Konzert in Boston gegeben – mit einem Preis pro Ein-trittskarte von im Mittel 100 Dollar. In der U-Bahn-Station hatte er einige der schwierigsten Stücke, die je komponiert wurden, dargeboten – auf einer Stradivari Violine im Wert von 3,5 Millionen Dollar.
Dieses Experiment der Washington – Post hat mir viel zu sagen. Ich laufe durch die Gegend, den Kopf voll mit – meist negativen – Informationen. Und gehe an den Wundern, am Schönen und Strahlenden achtlos vorbei. So verarmt mein Leben. Also: mehr sehen, mehr lauschen, mehr spüren.