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Ein Kommentar von Prof. Dr. Klaus-Dieter Müller
  • Von der Seele reden

Was die Bibel uns heute noch zu sagen hat

Von der Seele reden | Folge 600

29.04.2024

Von der Seele reden – der Kommentar von Prof. Dr. Klaus-Dieter Müller, Politik- und Medienwissenschaftler und Vorstand der „Stiftung: Christliche Werte leben“.

Jeden Donnerstag um 20:45 Uhr im Radio und bereits vorab hier den ausführlichen Kommentar online hören. Mehr Infos zur Stiftung auf www.christlichewerteleben.de


Ist die Schöpfung nicht ein anderes wunderbares Wort dafür, dass wir die komplexen biologischen Zusammenhänge nicht begreifen können, in welche der Mensch immer mehr eingreift, um dann verwundert festzustellen, dass Bienen eine Bedeutung haben?

Ohne den Begriff der Schöpfung wäre die Ökologiebewegung wahrscheinlich nicht entstanden. Die Schöpfung ist der Ausgangspunkt einer Erzählung, die jenseits politischer Theorien die Menschen vereint. Ähnlich verhält es sich mit dem Paradiesgarten. Nicht umsonst ist das Paradies ein Garten; er beglückt alle Menschen, spendet Früchte zum Leben – und zwar so viele, wie der Mensch braucht und nicht als akkumuliertes Kapital! Der Paradiesgarten existiert im ökologischen Gedankengut, auch hinsichtlich der Beziehung zwischen Menschen und Natur. Das Paradies als Garten gedacht ist eine zutiefst ökologische Erzählung.

In diesem Garten steht der Baum des Lebens. Ein Baum hat eine Wurzel, die ihm Kraft gibt. Im christlichen Glauben ist diese Wurzel Gott, späterhin Jesus Christus, der in verschiedenen Bildern seine Rolle als Kraftspender immer wieder betont („Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt, der hat viel Kraft!“) (Johannes 15, 5). Interessant und theologisch wahrscheinlich noch nicht durchdacht ist die Tatsache, dass unsere Gesellschaft immer mehr als Netzwerk begriffen wird   In einem Netzwerk mit gleichberechtigt verbundenen Knoten geht das Zentrum verloren, oder eben die Wurzel. Es fehlt eine tragende Wertvorstellung.

Auch die Würde des Menschen, die in der heutigen Zeit von der Sozialhilfe bis zum Asylrecht reicht, wurzelt in der Bibel. „Gott schuf also den Menschen nach seinem Abbild, als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.“ (Gen. 1, 27). Von dem Gedanken, dass in jedem von uns ein Stück von Gott steckt, führt ein (beinahe) direkter Weg zu Artikel 1 unseres heutigen Grundgesetzes. Dabei realisiert der Mensch die Würde gemäß der Bibel im Gebrauch seiner Freiheit unter Wahrung der Gottähnlichlkeit – mit anderen Worten in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung. „Verantwortung“ kommt in der Bibel nicht vor, aber sie ist ihr angelegt, wenn auch nicht gegenüber sich selbst oder der Gesellschaft, sondern gemeint ist das Einstehen für die Folgen des eigenen Handelns gegenüber Gott.

Am Ende der Geschichte steht die Apokalypse. Das Denken in Untergangsszenarien, die Vorstellung eines Geschichtsabbruchs und einer Zukunft als Katastrophe ist letztlich ebenfalls in der Bibel verankert. „Apokalyptik ist traditionell und bleibend die bevorzugte Form der Zukunftsthematisierung in christlich geprägten Gesellschaften.“   Apokalyptische Sprech- und Denkformen sind ein Bestandteil der westlichen Moderne geworden, sie haben auch Bereiche der Natur erreicht, in denen für spekulative Vorstellungswelten doch eigentlich kein Raum sein sollte.

Die Bibel als große Erzählung bietet so die theoretische Quelle weiterer, neuer Erzählungen. So kann die Große Transformation in die biblischen Erzählungen der Propheten im Alten Testament eingeordnet werden. Es geht um die Tradition der Umkehr und die Befreiung aus ungerechten Verhältnissen. Ebenso geht es um die Macht des Geldes, um Gerechtigkeit, Liebe, aber auch um Verzicht. Für die theologische Begleitung der Großen Transformation wurde der Begriff der „transformierenden Spiritualität“ entwickelt. Sie orientiert sich an der Botschaft der Bibel und ist dem konkreten, wirklichen Menschen verbunden und damit mehr als abstrakte Theorie oder Theologie. Dies bedeutet auch eine Haltung gegenüber den Menschen ohne Herablassung, im Vertrauen darauf, dass diese selbst wissen, was für sie das Beste ist. Sie wendet sich gegen Diskriminierung und Ausschluss; Demut spielt eine Rolle ebenso wie die Balance zwischen Aktion und Kontemplation. Transformation bedeutet so, dass alle sich von Gott auf einen verwandelbaren Weg rufen lassen. Transformative Spiritualität stellt sich den das Leben zerstörenden Kräften in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik prophetisch entgegen.

Es gibt noch eine weitere Dimension des menschlichen Handelns, die auf die Bibel zurückführt und die für die (politische) Gegenwart von größter Bedeutung ist, und dies ist die Kategorie der Zeit und damit der Zukunft und so der Hoffnung. Am Anfang der Menschheitsgeschichte gab es keinen Fortschritt, nur endlose Wiederholungen des Ewiggleichen. Das Leben war ein Rad; wie im Gilgamesch-Epos beschrieben, fand Veränderung nicht statt. Erst als Gott den Juden ein Land versprach, wurde ein Projekt geboren und damit Zukunft möglich; die Zeit verläuft nunmehr linear. Der Welt des Rades folgte Abrahams neue Welt der Wanderung.

Nehmen wir das Phänomen der Wanderung und der Flucht, angefangen mit der Vertreibung aus dem Paradies, der Flucht aus Ägypten, der Eroberung des Heiligen Landes, der Verfolgung durch die Römer, im Neuen Testament die Flucht von Maria und Josef mit dem Jesuskind nach Ägypten. Die Bibel als Basis der abendländischen Kultur ist ein Buch voller „Geschichten, Lieder, Gebete, Klagen und Visionen von Geflohenen und Vertriebenen, Deportierten, Ausgezogenen, Entkommenen, Heimatsuchenden, Migranten und Wanderern aus dem Morgenland.“   Sie erzählt auch von den Reaktionen der Einheimischen, von Feindseligkeit, Angst, Gewöhnung und Freundlichkeit. Die Bibel ist ein Buch der Flucht.

Aus den Erfahrungen und Gesetzen des Alten Testaments und dem Gebot der Liebe des Neuen Testaments muss eine Theologie der Migration entwickelt werden.

Hier haben die Kirchen eine Aufgabe, um sich den populistischen Anfeindungen unserer Demokratie entgegenzustellen. In der Tat brauchen wir eine Theologie der Flucht, die dem Umstand Rechnung trägt, dass die Welt zusammenwächst. Die christlichen Kirchen verfügen über einen großen theologischen Schatz zum Umgang mit Fremden und zur Flucht, der für die globalisierte Gesellschaft fruchtbar gemacht werden kann. Für die (heutige) Flüchtlingsproblematik findet sich darum hier ein Schatz von gesinnungsethischen Argumenten. So wird der Einsatz für Flüchtlinge mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter begründet (Lukas 10, 25 – 37); in Matthäus 25, 35 fordert Jesus, Fremde bei sich aufzunehmen und schließlich Matthäus. 25, 40 und 45: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Was ihr einem der geringsten unter euch getan habt, das habt ihr mir getan!“

Das neue Testament wechselt die Perspektive, Jesus selber ist ein Fremder, er ist anders, er provoziert und er überschreitet Grenzen. Er umgibt sich mit Menschen, welche die Gesellschaft ausgeschlossen hat und tut Wunder an den Feinden Israels. Während im Alten Testament die Einhaltung der Gebote Gottes bestimmend ist, geht es im Neuen Testament stärker um die Liebe und die Zuwendung zum Nächsten.

Die Bibel ist gleichsam die Erfindung des Formats der Erzählung selbst und so ein Schatz von ethischen Handlungsanleitungen. Es führt ein Weg von ihr zur „grünen Theologie“ der Gegenwart und zum Hoffnungsdenken eines Martin Luther King. Wenn ich am Ende auf meine These 1 Bezug nehmen darf, dann bietet die Bibel viele Ansatzpunkte zu unseren und den Werten, die wir für die neuen Herausforderungen benötigen. Leider hat der Klerus diese Werte immer wieder ausgeblendet, sogar bekämpft und gegen sie eklatant verstoßen. Das bedeutet aber nicht, dass wir die Bibel außer Acht lassen können bei der Diskussion um die Werte, die wir auf dem Weg in die humane Gesellschaft benötigen.

Ich wünsche Ihnen eine gelindende Woche, aber bitte bleiben Sie achtsam.