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Ein Kommentar von Prof. Dr. Klaus-Dieter Müller
  • Von der Seele reden

Die Zeit des Individuellen braucht mehr Miteinander

Von der Seele reden | Folge 599

22.04.2024

Von der Seele reden – der Kommentar von Prof. Dr. Klaus-Dieter Müller, Politik- und Medienwissenschaftler und Vorstand der „Stiftung: Christliche Werte leben“.

Jeden Donnerstag um 20:45 Uhr im Radio und bereits vorab hier den ausführlichen Kommentar online hören. Mehr Infos zur Stiftung auf www.christlichewerteleben.de


Unsere Zeit ist für mich die extreme Beschleunigung und Übersteigerung des Individuellen als Maßstab aller Dinge und ist gekennzeichnet durch sich überschlagende technische Neuerungen, die zeitliche Verdichtung und den Verlust von Gewissheiten und sozialen Rollen. Die Postmoderne, wie unsere Zeit genannt wird, bringt eine Vielfalt von Lebensentwürfen, Wissenschaftskonzeptionen und Sozialbeziehungen hervor, die viele Menschen überfordert. Zudem hat das Individuum frei von Konventionen seine individuelle Autonomie an Fake News und Shitstorms und vor allem an eine Werbemaschinerie verloren, die den Verstand weitgehend ausschaltet und Bedürfnisse manipuliert. Der Mensch als sich selbst gehorchendem Wesen ist die Ausnahme.

In unserer postmodernen Gesellschaft stehen nicht mehr die anderen oder der Staat im Mittelpunkt einer Erwartungshaltung, sondern ich muss selbst sehen, wo ich bleibe. Ich muss Ziele in mir selbst finden und sie selbst verfolgen. Es tritt also eine Neubewertung des Autonomiegedankens ein, Autonomie bedeutet jetzt nicht mehr die Humanisierung des Arbeitsplatzes, sondern Selbstständigkeit. Ziemlich euphemistisch nennen die Soziologen diesen vernetzten Einzelkämpfer „reflexives Subjekt“. Aber nicht jede/r kann und möchte ein solches „reflexives Subjekt“ sein, das im ständigen Fluss wechselnder Projekte durch das Leben schwimmt. Und so kann die neue Autonomie und Freiheit auch zu einer neuen perfiden Form der Ausbeutung verkommen.

Viele ältere Menschen haben irgendwann ihre Identität gefunden. Sie haben ihre Werte und Lebensweise gefunden, aber die Gesellschaft bewegt sich weiter in der Beliebigkeit ihrer Trends und der Bewertung von anderen Meinungen. Immer mehr Autos parken deine Umwelt zu, eine zersiedelte Landschaft, Männer mit Schrauben in der Nase und Frauen mit grünen Haaren gehören zum alltäglichen Erscheinungsbild. Einhundert schlechte Fernsehprogramme und kurze abgehackte Sätze bestimmen die Kommunikation. Irgendwann sagst du dir: Dies ist nicht mehr meine Welt. Wenn du und deinesgleichen dann auch noch beschimpft und als stur, zurückgeblieben oder gar rassistisch abgestempelt werden, ist der Populismus geboren. Hinzu kommen unverschämte Mieten, die viele an ihre finanziellen Grenzen bringen.

Wir haben nach dem 2. Weltkrieg sehr viel erreicht. Wir haben aus einem Land, für das nur Hass und Verachtung blieb, ein friedliebendes und demokratisches Gemeinwesen gemacht, das vor dem Hintergrund aktueller separatistischer, antidemokratischer und rassistischer Entwicklungen in Europa durchaus Vorbildcharakter hat. Die älteren Menschen sind bei uns aber in der Mehrheit, fast 57 % sind zwischen 40 und 60, fast ein Drittel über 60.

Sicher: Die Zukunft gehört der Jugend. Die meisten von uns haben Kinder und Enkel, denen es ohnedies gut gehen soll. Die Älteren aber fordern ein ausgewogenes Miteinander, das Recht auf eine eigene Meinung und keine Überforderung durch immer mehr Technik. Solidarität heißt auch Rücksicht nehmen.

Ich wünsche Ihnen eine erfolg- und segensreiche Woche, aber bitte blieben Sie achtsam.